Ein Teil des Tempels kommt nach England
So hat sich Lord Elgin den Tempel aller Tempel gewiss nicht vorgestellt. Der britische Gesandte beim Osmanischen Reich, zu dem Griechenland im ausgehenden 18. Jahrhundert noch gehört, ist ein glühender Fan alles Vergangenen – zumal alles Antiken.
Doch was er hier sehen muss, ist nur noch ein trauriger Schatten dessen, was einst als wichtigstes Bauwerk des klassischen Griechenlands gefeiert wurde: der Parthenon-Tempel, Mittelpunkt des Akropolis-Hügels von Athen.
Die Säulen: schwer beschädigt, wenn überhaupt noch vorhanden. Der berühmte Fries oben an der Stirnseite bröckelt. Die majestätisch breiten Stufen sind so löchrig, dass man unweigerlich ins Stolpern gerät.
Also stimmt es, was man sich erzählt: Der Angriff der Venezianer auf die Akropolis im Jahr 1687 hat das Antlitz des Tempelhügels unwiederbringlich zerstört. Ohne recht zu wissen, welche Schätze sie da vor sich hatten, beschossen die venezianischen Truppen damals die Bauten hoch über der Stadt – und trafen ausgerechnet das dortige Pulvermagazin.
Dessen Explosion ließ kaum einen Stein auf dem anderen. Elgin fasst einen schwerwiegenden Entschluss: Wenigstens den Parthenon-Fries will er vor dem endgültigen Verfall bewahren. Er lässt ihn abtragen, nach England verschiffen und verkauft ihn schließlich an das British Museum.
Mit dem Parthenon-Fries hat Lord Elgin das Herzstück der Akropolis in seine Gewalt gebracht. Eine vielgestaltige Prozession ist auf ihm zu sehen: der alljährliche Festzug zu Ehren der Stadtgöttin Athena – Jünglinge mit Opfertieren, Reiter, Musikanten.
Im Zentrum der Darstellung wird der Göttin ein Gewand übergeben. Ganz so, wie es die Athener auch in Wirklichkeit taten.
Während der Festtage pilgerten sie hinauf zur Akropolis und kleideten die Statue der Athena neu ein. Eine eindrucksvolle Verschränkung von Kult, Kunst und Wirklichkeit: Auf dem Fries des Parthenon erkannten die feiernden Athener sich selbst.
Ein Tempel als Machtdemonstration
Als der Fries des Parthenon entstand, waren seine Abbildungen etwas ganz Neues. Neben den Göttern auf einmal auch den Menschen in den Mittelpunkt eines Kunstwerks zu rücken – darf man das? Ziemt sich das für einen Tempel?
Durchaus, meint der Staatsmann Perikles, der sich für den Parthenon-Bau und dessen Fries eingesetzt hat. Nach den Perserkriegen ist Athen 448 vor Christus zur stolzen Vormacht im Attischen Seebund geworden – der erste große Sieg der noch jungen Demokratie über ihre Feinde. Und dieses neue Selbstbewusstsein, findet Perikles, soll sich auch im Stadtbild zeigen.
Der Parthenon soll das neue Zentrum Athens, Athen das neue Zentrum Griechenlands werden. Ein Entschluss, dem die Vollversammlung der Athener Bürger nur allzu gerne zustimmt, auch wenn die Baumaßnahmen alles andere als billig werden.
In den nächsten Jahren können die Athener fast im Wochentakt Veränderungen auf dem Hügel über ihrer Stadt beobachten, wenn sie nicht gleich selbst daran beteiligt sind.
Jeden Morgen pilgern Heerscharen von Handwerkern zur Akropolis hinauf, darunter auch Sklaven, die einen Großteil des Lohns gleich wieder an ihre Besitzer abtreten müssen. Auch wirtschaftlich wird die Akropolis-Baustelle schnell zum neuen Zentrum des Landes.
Findige Architekten, widerspenstige Priester
Für das künstlerische Konzept der Akropolis sind Perikles die besten Namen gerade gut genug. Klassische Linien und klare Proportionen schweben ihm vor. Die Parthenon-Architekten Iktinos und Kallikrates sorgen geschickt dafür, dass die gewünschte Geometrie nicht in Gleichförmigkeit umkippt.
Jede Säule verjüngt sich nach oben hin, außerdem sind die Ecksäulen etwas dicker als der Rest. Minimale Korrekturen, die der strikten Marmor-Architektur erst Leben einhauchen.
Nachdem der Parthenon 438 vor Christus in einer Rekordzeit von neun Jahren fertiggestellt ist, soll es an ein Gebäude gehen, das für Perikles fast die gleiche Bedeutung hat: die Propyläen, ein repräsentativer Torbau, durch den man künftig den Akropolis-Hügel betreten soll.
In Festsälen sollen dort Diplomaten und Staatsgäste bewirtet werden. Monumental und mächtig wünscht sich Perikles den Bau. Am besten soll er sich über den gesamten westlichen Ausläufer des Akropolis-Hügels erstrecken.
Doch hier muss der einflussreiche Staatsmann erstmals Kompromisse eingehen. Die Nike-Priester etwa fürchten, ihre Gottheit könnte gegenüber der von Perikles bevorzugten Stadtgöttin Athena ins Hintertreffen geraten und fordern einen Teil des westlichen Felsens für einen Nike-Tempel – mit Erfolg.
Auch Athenas göttlichem Widersacher Poseidon wird ein Altar geweiht. In den Jahren von 420 bis 406 vor Christus konzentriert sich schließlich alles auf den Bau des Erechtheion. Dort soll gleich mehreren Göttern sowie dem mythischen König Erechtheus gehuldigt werden. Die Propyläen, Perikles' Herzensprojekt, bleiben unvollendet.
Und so wird der Akropolis-Hügel zwar nie der geschlossene große Wurf, den Perikles wollte – vielleicht spiegelt sich aber gerade darin die Vielfalt und Widersprüchlichkeit Athens wider.
Die Akropolis ist ein Ort der Götter, der gleichzeitig Macht und Einfallsreichtum der Menschen feiert; eine Huldigung an Ahnen und Schutzmächte ebenso wie eine Feier von Kunst und Schönheit.
Obwohl sie nie ganz fertiggestellt wird, kündet die Akropolis bis in die Neuzeit hinein von der Größe der hellenischen Zivilisation.
Streit um den Tempel hält an
Im 19. Jahrhundert will die erstarkende griechische Nationalbewegung die Akropolis wieder in ihrem alten Glanz erstrahlen lassen. Nach jahrhundertelanger Zugehörigkeit zum Osmanischen Reich erkämpfen sich die Griechen 1830 die Unabhängigkeit und suchen nach identitätsstiftenden Zeugnissen einstiger Größe.
Was bietet sich da eher an als die Akropolis? So beginnt ein ehrgeiziges Rekonstruktionsprogramm. Alle Bauten, die nicht aus der Antike stammen, werden entfernt – zuerst natürlich die Moschee, die die Osmanen mitten in den Parthenon-Tempel hineingebaut hatten.
Doch je näher die Akropolis ihrem antiken Originalzustand kommt, umso auffälliger wird, welche Schätze Lord Elgin einst außer Landes geschafft hat. Nur ist Großbritannien alles andere als gewillt, die Kunstwerke wieder herauszurücken. Schließlich habe Elgin damals das, was er selbst eine Rettung, Griechenland einen Raub nennt, mit den osmanischen Herrschern abgestimmt. Ein Konflikt, der bis heute andauert.
Allerdings: Mit einem neu errichteten Museum am Fuß des Akropolis-Hügels hofft Griechenland, den Streit doch noch für sich entscheiden zu können. Denn bislang hat das British Museum immer argumentiert, in Athen fehle ein geeigneter Platz für die anfälligen Kunstschätze.
Mit seinen voll klimatisierten, nach modernsten konservatorischen Ansprüchen konzipierten Räumen könnte das Akropolis-Museum genau das bieten. Doch das British Museum hat das bisher nicht beeindruckt.
(Erstveröffentlichung 2008. Letzte Aktualisierung 27.04.2021)