Handmodelle zeigen Buchstaben in Gebärdensprache

Sprechende Hände

Abbé de L'Epée – Gründer der ersten Gehörlosenschule

1760 lernte Charles Michel Lespée, genannt Abbé de L'Epée, gehörlose Zwillingsschwestern kennen. Der ehemalige Jurist und Geistliche entdeckte seine Lebensaufgabe. Er unterrichtete fortan gehörlose Menschen und gründete die weltweit erste Schule für Gehörlose.

Von Julia Lohrmann

Die Lebensaufgabe

1712 wurde Charles Michel Lespée in Versailles geboren. Sein Vater war Architekt des "Sonnenkönigs" Ludwig XIV. Auf seinen Wunsch studierte er Recht und wurde 1733 Rechtsanwalt im Parlament von Paris.

Die sichere Beamtenlaufbahn entsprach nicht dem Herzenswunsch des jungen Mannes. Er folgte dem Ruf Gottes und gab seine Juristenkarriere auf, um sich 1738 zum Priester weihen zu lassen. Er erhielt den Namen Abbé de L'Epée – "Abt des Schwertes".

Doch schon bald geriet er in Konflikt mit der kirchlichen Hierarchie, da er dem Jansenismus zugeneigt war. Diese innerkatholische Reformbewegung war im 17. und 18. Jahrhundert vor allem in Frankreich bedeutsam und folgte der strengen Gnadenlehre des niederländischen Theologen Cornelius Jansen. Dieser Lehre nach seien die Menschen entweder zur Rettung oder zur Verdammnis vorbestimmt.

L'Epée wurde seines Priesteramtes enthoben, lebte fortan als Privatlehrer in Paris und verbrachte seine Zeit mit Studien und Werken der Barmherzigkeit. Bei einem seiner vielen Hausbesuche traf er auf zwei Mädchen, die im Wohnzimmer saßen und nähten. Ihre Mutter war nicht zu Hause.

Der Abt sprach die beiden an, aber sie antworteten nicht. Er hielt sie für unerzogen und unhöflich, bis ihre Mutter zurückkam und ihn über ihre Gehörlosigkeit aufklärte. Der Abt war fasziniert und tief berührt. Von da an widmete er sich der Hilfe gehörloser Menschen.

Die beiden Mädchen waren seine ersten Schülerinnen. Er unterrichtetete sie an seinem persönlichen Wohnsitz auf eigene Kosten und entwickelte für sie neue Lehrmethoden.

Methodische Zeichen

Seine Methode beruhte auf einem einfachen Grundsatz: Taub geborene Menschen oder Kinder, die vor dem mündlichen Spracherwerb taub geworden sind, können keine mündliche Sprache als Muttersprache haben. Die einzige Muttersprache der gehörlosen Kinder ist die Sprache der Gesten.

Daraus ergab sich für den Abt, dass die Methode der Sprachvermittlung auf der Gebärde aufbauen muss. Seine Erziehung bestand deshalb darin, "durch die Augen in ihren Geist hineingehen zu lassen, was in unseren durch die Ohren hineingegangen ist".

Für seinen Unterricht entwickelte Abbé de L'Epée ein methodisches Zeichensystem, das zur Grundlage der heutigen amerikanischen Gebärdensprache wurde. Am ersten Schultag musste ein neuer Schüler zunächst das Hand-, beziehungsweise Fingeralphabet erlernen.

Ein Ausschnitt eines Plakats mit dem deutschen Fingeralphabet

Das deutsche Fingeralphabet

Im Jahre 1776 veröffentlichte der Abbé ein Buch mit einer umfassenden Darstellung seiner Methode. Seine Schrift trug den Titel: "Unterweisung der Taubstummen durch die methodischen Gebärden, ein Werk, das den Entwurf zu einer Weltsprache unter Vermittlung natürlicher, methodisch geordneter Gebärden enthält".

In der Gebärdensprache nach de L'Epée werden die Wörter der verschiedenen Wortarten zusammengesetzt aus den sogenannten Wurzelzeichen (Wurzel = Wortstamm) und entsprechenden methodischen Zeichen, die jeweils einen Artikel, eine Endung, eine Vor- oder Nachsilbe vertreten.

Den Gebrauch des Artikels erklärt er folgendermaßen: "Nunmehr wird die Bewegung des rechten Zeigefingers, der sich streckt und dann hakenförmig krümmt, erklärt: das wohlbedachte Zeichen, das wir jedem Artikel geben. Wir drücken die Art desselben aus, indem wir für den männlichen Artikel 'le' die Hand an den Hut heben und für den weiblichen 'la' an das Ohr, wo gewöhnlich der Kopfputz einer Person des schönen Geschlechts endigt. Die Einzahl und die Mehrzahl derselben zeigen wir durch das Fingerzeichen an, das der Einheit oder der Vielheit entspricht."

Die erste Gehörlosenschule Europas

Bald wurde seine Methode in Paris bekannt und immer mehr Gehörlose versammelten sich um den neuen Lehrer. 1771 gründete Abbé de L'Epée in Paris die erste Gehörlosenschule, das "Institut sourds et muets" – finanziert aus seinem Privatvermögen, Spenden und Geschenken.

Das Ziel des Abtes war es, den Kindern als gute Christen und gute Arbeiter ein Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen. Für seinen Unterricht wählte er deshalb als Textgrundlage das Alte und Neue Testament und den Katechismus. Außerdem mussten alle Schülerinnen und Schüler ein Handwerk erlernen. Damit hatten seine Zöglinge beim Verlassen seines Instituts einen höheren sozialen Status als viele hörende Franzosen der damaligen Zeit.

Die finanziellen Mittel des Abtes schmolzen dahin, aber er fand einflussreiche Unterstützung: König Ludwig XVI. persönlich wies ihm Räume und Geld zu. 1791, zwei Jahre nach dem Tod des Abtes, wurde die Schule verstaatlicht. Das Ansehen des Abtes verbreitete sich in ganz Frankreich und dann in Europa. Beim Tod Abbé de L'Epée wurde die Mehrheit der gehörlosen Europäer durch seine Methode unterrichtet.

Durch seinen Einsatz und seine Schule bewies der Abbé die Lernfähigkeit gehörloser Menschen und holte sie damit aus dem sozialen Abseits. Bis dahin hatten Gehörlose als "taubstumm" und nicht bildungsfähig gegolten.

Auch wenn etwa hundert Jahre später die lautsprachig orientierte Methode Samuel Heinickes seinen Ansatz verdrängte und den Gehörlosen eine Zeit lang der Einsatz von Gebärden verboten wurde, weil ihnen das Sprechen beigebracht werden sollte, war seine Schule bahnbrechend für die Emanzipation gehörloser Menschen in Europa.

(Erstveröffentlichung 2009. Letzte Aktualisierung 09.07.2019)

Quelle: WDR

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