Frau Dr. Koopmann, woran merkt man, dass man süchtig ist?
Um dies zu überprüfen, hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sechs Kriterien festgelegt:
- Das ist erstens ein starker Drang, die Substanz zu konsumieren, man muss die Droge unbedingt haben.
- Bestehen eines Kontrollverlusts: Man kann es nicht bei einem Glas belassen, sondern man muss immer weiter trinken.
- Fortgesetzter Konsum trotz eingetretener körperlicher oder psychischer Folgeschäden.
- Toleranzbildung. Man braucht immer mehr von dem Suchtmittel. Es reicht nicht mehr ein Joint, ein Bier, eine Zigarette, man muss mehr konsumieren, um die anfängliche Wirkung zu erreichen.
- Entzugserscheinungen. Man muss Drogen konsumieren, damit es einem normal geht, also so wie anderen ohne Drogen, damit man keinen Kater oder Schmerzen hat.
- Rückzug aus dem Sozialleben. Die Droge wird wichtiger als Familie, der Partner oder Freunde, die Abhängigen können ihre Arbeitsleistung nicht mehr vollbringen.
Kann jeder von uns suchtkrank werden oder gibt es Faktoren, die die Entstehung von Suchterkrankungen begünstigen?
Es gibt Hinweise darauf, dass eine Anfälligkeit für Sucht genetisch vererbt werden kann. Untersuchungen haben gezeigt, dass die Kinder von Abhängigen häufiger süchtig werden. Es gibt aber kein einzelnes "Sucht-Gen" im engeren Sinne. Außerdem wird nicht jedes Kind eines Suchterkrankten selbst abhängig.
Für die Entstehung von Suchterkrankungen verantwortlich ist eher ein Zusammenspiel aus verschiedenen genetischen und – vielleicht noch wichtiger – sozialen Faktoren und Lernerfahrungen. Das bei den Eltern wahrgenommene Verhalten kann Kinder dazu bringen, ihre eigenen Probleme ebenfalls mit Alkohol lösen zu wollen.
Auch Schicksalsschläge im Leben spielen eine wichtige Rolle. Es gibt auch Umstände, die eher eine Resilienz begünstigen: ein sozial stabiles Umfeld zum Beispiel, ein guter Job, ein erfüllter Alltag stabilisieren sehr.
Gibt es Studien dazu, dass eher Männer oder Frauen zu Suchterkrankungen neigen?
Das kann man so pauschal nicht sagen. Es gibt verschiedene Drogen, Männer und Frauen konsumieren eher unterschiedlich und haben auch unterschiedliche Herangehensweisen.
Wenn wir von Alkohol sprechen, sieht man klar, dass riskanter Konsum vor allem bei jüngeren Männern verbreitet ist. Das kann einfach an Männlichkeitsvorstellungen liegen – man ist dann ein toller Typ und kann viel vertragen. Auch im Erwachsenenalter sind Männer häufiger alkoholkrank. Frauen trinken, jetzt mal klischeehaft gesagt, eher nicht öffentlich, also lieber geheim und zu Hause.
Bei Frauen ist Medikamentenkonsum viel häufiger: Bis zu zwei Drittel sind Frauen. Hier sind es vor allem Schlafmittel, die von älteren Frauen konsumiert werden. Man braucht weniger Schlaf und schläft oft auch schlechter. Die typische Form ist dann eine Low-Dose-Abhängigkeit: Die Betroffene braucht jeden Abend die Tablette, aber die Dosis steigert sich dann auch nicht.
Zu Ihnen kommen Suchtkranke, die als ersten Schritt einer Therapie einen klinischen Entzug machen wollen. Wie gehen Sie vor? Werden die Suchtkranken von einem Tag auf den anderen auf Null gesetzt?
Bei einem Entzug in der Klinik bekommen die Patienten ab dem Aufnahmetag keinen Alkohol mehr, werden aber während des Entzugs medizinisch überwacht und bekommen eine Medikation, die die Entzugssymptome lindert. Anders lässt sich so eine Entgiftung oft gar nicht durchhalten. Die ersten Tage zu überstehen, in denen der Drang nach Konsum am stärksten ist, ist am schwierigsten und das sollte man nicht allein tun.
Am Ende einer stationären Therapie sollte man auch eine Vorstellung davon haben, wie es weitergeht und wie man seine Ziele in einer ambulanten Therapie, zum Beispiel bei einer Suchtberatungsstelle, weiterverfolgen kann.
Was sind das für Medikamente?
Begleiterscheinungen des Alkoholentzugs sind oft Angstzustände, Herzrasen, Händezittern, Kopfschmerzen, Schlafstörungen bis hin zu epileptischen Anfällen und dem gefürchteten Delirium tremens, das unter Umständen auch tödlich sein kann. All diesen Symptomen kann man bei Beobachtung des Verlaufs entgegenwirken, zum Beispiel mit krampflösender und vor allem beruhigender Medikation.
Wie erleben Sie die Suchtpatienten in den ersten harten Tagen des Entzugs?
Es ist sehr schwierig. Alkohol, Kokain, auch Medikamente machen körperlich abhängig und ziehen dann eben auch körperliche Entzugssymptome nach sich. Es ist wichtig, die Patienten in dieser Phase sehr stark zu begleiten und ihnen auch eine Zuversicht zu geben.
Damit ist nicht nur ein "Sie schaffen das" gemeint, sondern auch eine ständige medizinische Überwachung und Behandlung ihrer Symptome: Dabei geht es auch um die Frage: Ist das, was ich jetzt als Patient gerade erlebe, normal, wie kann ich damit umgehen?
Ab wann hat der Körper dann keine Entzugserscheinungen mehr?
Ein körperlicher Entzug dauert bei Alkoholabhängigkeit meist fünf bis sieben Tage, danach klingen die Entzugssymptome ab. Bei einem Cannabisentzug halten die Entzugssymptome oft länger an, sind aber in der Regel weniger stark ausgeprägt als bei dem Alkoholentzug.
Bei Medikamentenabhängigkeit hängt die Dauer des Entzugs sehr stark von den Eigenschaften des Medikaments ab, sie kann zwischen mehreren Tagen und mehreren Wochen betragen.
Es heißt, dass ein Alkoholkranker selbst bei nur einem kleinen Schluck sofort wieder in die Sucht fällt. Ist das wirklich so?
Das kann man nicht für alle Patienten sagen. Ja, Alkohol ist eine körperlich wirkende Droge und macht körperlich abhängig, aber auch psychische und soziale Faktoren sind hier sehr wichtig.
Wenn jemand anfängt zu trinken, weil er meint, seinen Beruf sonst nicht ertragen zu können, oder weil er versucht, damit gegen eine Depression anzukämpfen, dann muss er sich natürlich genau mit diesen Problemen auseinandersetzen. Einen anderen Beruf finden, oder eine Therapie gegen die Depression machen. Das kann dann helfen, eine dauerhafte Abstinenz zu erhalten.
Wie hat sich die Suchttherapie im Laufe der letzten Jahrzehnte verändert? Sieht man den Patienten heute anders?
Was unseren Blick auf Suchterkrankte angeht, muss man sich klarmachen: Sucht hat nichts mit "sozial" oder "asozial" zu tun, es ist auch keine Frage des Willens. Sucht ist eine Krankheit, gegen die man sich nicht einfach wehren kann.
Suchterkrankte sind zumeist in der Mitte unserer Gesellschaft. Deshalb ist es heutzutage das wichtigste Ziel von Suchttherapie, Menschen wieder in soziale und berufliche Kontexte zurückzubringen und mit ihnen Strategien zu erarbeiten, wie das gelingen kann. Da sind alle gefragt.
Alkohol hat bei uns eine stark soziale Funktion: Er macht locker und baut soziale Barrieren ab. Bei offiziellen Anlässen gibt es ganz oft den klassischen Sektempfang, auch im Arbeitskontext. Und wenn Sie da hingehen und keinen Sekt trinken, dann werden Sie vielleicht schief angeschaut, als Spielverderber. Wir als Gesellschaft müssen da umdenken.