Die älteste Kultur der Menschheit?
Die Kultur der Aboriginals ist nach Ansicht vieler Forscher die älteste Kultur der Menschheit, die noch heute gepflegt wird. Allerdings: Von "den Aboriginals" zu sprechen, ist sehr ungenau. Denn die Aboriginals im Landesinneren unterscheiden sich von denen im heißen Norden, und die wiederum pflegen andere Bräuche, Künste und Religionen als die im kühleren Südosten.
Wissenschaftler haben zwischen 200 und 300 verschiedene Aboriginal-Sprachen gezählt. Eine beachtliche Zahl bei einer Maximalbevölkerung von weniger als einer Million.
Die Kolonialisierung Australiens hatte auf sehr unterschiedliche Weise Einfluss auf die verschiedenen Aboriginal-Stämme. Der Grad der Anpassung und des Verlusts althergebrachter Bräuche variiert stark. Manche Ureinwohner haben sich schnell und nahezu vollständig assimiliert, andere pflegen bis heute ihre Bräuche, Traditionen und Lebensformen.
Wieder andere kamen erst in einer Phase mit den Weißen in Berührung, in der diese ihre aggressive Expansions- und Anpassungspolitik schon wieder aufgegeben hatten oder zumindest hinterfragten. Bestes Beispiel hierfür sind die Spinifex, ein Stamm aus der Wüste im Westen Australiens, die erst in den 1950er-Jahren mit den Weißen in Kontakt kamen.
Die Traumzeit als allgegenwärtige Parallelwelt
Trotz aller Unterschiede in den kulturellen Praktiken gibt es auch viele Gemeinsamkeiten. So stehen Weltbild und Entstehungsgeschichte bei allen Stämmen auf derselben Basis: Das Land, die Sprachen und die Menschen wurden demnach von Schöpfungswesen geschaffen, die den Menschen das Land anvertrauten. Mit jeder Region und Sprache wurde eine andere Gruppe Menschen betraut – so erklären sich die Aboriginals den Ursprung der verschiedenen Stämme. Diese Schöpfungsakte geschahen in der sogenannten Traumzeit.
Der Begriff "Traumzeit" hat nach dem Verständnis der Aboriginals mehrere Bedeutungsebenen. Einerseits ist er quasi-historisch gemeint und verweist auf lange Vergangenes. Andererseits ist die Traumzeit den Aboriginal-Menschen allgegenwärtig als eine Art metaphysischer Parallelwelt.
Indem sie Rituale und Zeremonien abhalten, die ihnen von ihren Ahnen mündlich überliefert wurden – Schrift spielt keine Rolle bei den Aboriginals –, können sie sich jederzeit in die spirituelle Energie der Schöpfungszeit hineinversetzen. Alle Dinge, die in der Welt sind, sind Teil der Traumzeit.
Und auch die Regeln des sozialen Zusammenlebens, Recht und Gesetz gehen auf die Schöpfungsfiguren zurück. Bei manchen Stämmen sind diese Regeln so akribisch ausgearbeitet, dass es für jedes mögliche Ereignis eine genaue Verhaltensanweisung gibt: Wie verhalte ich mich bei Bränden, was mache ich bei Fluten, wie bewahre ich die Umwelt?
Die Religion der Aboriginals kennt keine Götter. Statt theologischer Dimensionen steht die Geografie im Mittelpunkt. Der Einzelne und seine Gruppe sind für immer an das Land gebunden, das ihnen vermacht wurde.
Heiliger Berg: Uluru
Auch das bekannteste Naturphänomen Australiens ist fest in der Aboriginal-Kultur verwurzelt: der drei Kilometer lange und zwei Kilometer breite Fels Uluru (Ayers Rock). Seit etwa 20.000 Jahren lebt dort der Stamm der Anangu. Der Uluru war in der Traumzeit Schauplatz einer kriegerischen Auseinandersetzung sowie die Heimat der mystischen Regenbogenschlange, der wichtigsten Schöpfungsgestalt der Aboriginals.
Die Regenbogenschlange formt demnach Berge und Täler und ist Hüterin des in der Wüste so wichtigen Wassers. Auch das Didgeridoo, das bekannteste Instrument der Aboriginals, steht mit ihr in direkter Verbindung. Die Töne, die das bis zu 2,5 Meter lange Blasinstrument erzeugt, sollen die Vibrationen nachempfinden, die die Regenbogenschlange auslöste, als sie bei ihrem Weg aus dem Meer die Landschaft Australiens formte.
Kommerzialisierte Kultur
Am Uluru lässt sich der Wandel der Aboriginal-Kultur und ihre Veränderung durch die Kolonialisierung und die Berührung mit den Weißen beispielhaft aufzeigen. Obwohl der Berg als heilig gilt und nach Ansicht der Aboriginals nicht bestiegen werden darf, wird es geduldet, dass dort täglich zahllose vornehmlich weiße Touristen einfliegen oder mit Bussen ankommen.
Schließlich sind die Touristen ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor für die Aboriginals, die nach und nach ihre traditionellen Lebensweisen aufgeben mussten. Seit 2019 ist das Betreten des Heiligtums Uluru verboten. Wer dennoch darauf herumklettert, riskiert inzwischen eine hohe Geldstrafe.
Auch die traditionelle Kunst der Aboriginals, die ursprünglich ausschließlich rituellen Zwecken diente, ist inzwischen kommerzialisiert. Die Nachfrage im Westen, wo meist eher ästhetische als spirituelle Gründe eine Rolle spielen, hat dazu geführt, dass die Aboriginals mit ihrem Kunsthandwerk nach Schätzungen der Regierung jährlich hunderte Millionen Euro umsetzen. Die Traumzeit ist zum Wirtschaftsfaktor geworden im neuen Jahrtausend, in dem sich drei Viertel der Aboriginals an die westliche Lebensweise angepasst haben.
(Erstveröffentlichung 2009. Letzte Aktualisierung 16.12.2019)