Vereinigung sorgt für den Aufstieg
Die Niederungen im Mündungsgebiet der Flüsse Rhein, Maas und Schelde – das waren im Mittelalter die "Lage Landen" (niederen Lande). Sie bestanden aus den selbstständigen Territorien Flandern, Brabant, Artois, Hennegau, Namur, Limburg, Holland, Seeland, Geldern sowie den Bistümern Lüttich und Utrecht. Deren Vereinigung durch die Herzöge von Burgund legte den Grundstein für den Aufstieg zu einer führenden Handelsmacht.
So sorgte Herzog Philipp der Gute zunächst für die Zentralisierung des Finanzwesens und der Justiz. Zu dieser Zeit – im 14. Jahrhundert – lag der Schwerpunkt der Burgundischen Niederlande im Süden: in Flandern und Brabant. Dort blühte der Handel mit Tuchen, Leder und Gewürzen. Dazu sorgten Bierbrauerei, Fischfang und Frachtfahrt für einen raschen wirtschaftlichen Aufschwung.
Der Sohn und Nachfolger Philipps des Guten, Karl der Kühne, wollte ein unabhängiges Königreich Burgund etablieren. Doch er scheiterte mit seiner aggressiven Politik und starb 1477 bei dem Versuch, die lothringische Hauptstadt Nancy einzunehmen. So verlagerte sich der Schwerpunkt Burgunds nach Norden in die Niederlande.
Karls Schwiegersohn Maximilian, ein Habsburger, konnte sich gegen Frankreich behaupten. Geschickt arrangierte er, dass seine Kinder die Kinder des spanischen Königspaares heirateten. So kam es, dass die Niederlande schließlich zum riesigen Habsburgischen Reich gehörten.
Die Republik wird geboren
Ende des 16. Jahrhunderts kam es zum Aufstand gegen die Habsburger: Die gemäßigten Kräfte sprachen sich für die Landeseinheit aller 17 Provinzen aus, um gemeinsam gegen die habsburgische Herrschaft vorzugehen. Doch daraus wurde nichts. Denn 1579 vereinigten sich die südlichen Provinzen und schlossen Frieden mit dem habsburgischen König Philipp II.
Kurz darauf unterzeichneten die nördlichen Provinzen den Unionsvertrag von Utrecht und setzten 1581 Philipp II. als Landesherrn ab. Als die südlichen Niederlande 1585 von spanischen Truppen erobert wurden, stand die Grenze zwischen Nord und Süd endgültig fest.
Kurz vor Ende des Dreißigjährigen Krieges besiegelte der Friede von Münster im Mai 1648 diese schließlich auch völkerrechtlich. Die nördlichen Niederlande erhielten die Staatsform einer Republik, die gut funktionierte.
Das kleine Land mit weniger als zwei Millionen Einwohnern stieg bald zur wirtschaftlichen Weltmacht auf, weil es sich in Landwirtschaft und Gewerbe spezialisierte und so seine Produktivität enorm steigern konnte. Außerdem funktionierte das Zusammenwirken von Schifffahrt, Handel und Finanzsektor sehr gut.
Kurze Machtübernahme der Patrioten
Spanien gehörte damals auch zum Habsburgischen Reich, und als der Thron Spaniens im Jahr 1700 an den Franzosen Philipp von Anjou gehen sollte, kam es zum Spanischen Erbfolgekrieg, in den auch die Niederlande involviert waren. Dieser Krieg machte deutlich, dass die kleine Republik Niederlande ihre Vormachtstellung nicht langfristig würde halten können.
Nun hieß es, das Vorhandene zu bewahren. Dies gelang, indem sich die Republik aus allen großen Konflikten des 18. Jahrhunderts heraushielt – eine Politik, die sie auch viel später im Ersten Weltkrieg verfolgen sollte. So liefen die wichtigen Entscheidungen in Europa jetzt an den Niederlanden vorbei.
Das wichtige und mächtige Amt des Statthalters, eingeführt im 16. Jahrhundert, war zu dieser Zeit vakant. Das Recht, dieses Amt zu besetzen, hatte sich das Haus der Oranier gesichert – und damit eine Art monarchische Struktur innerhalb der Republik geschaffen.
Doch als Statthalter Wilhelm II. 1702 gestorben war und keinen männlichen Nachkommen hinterlassen hatte, hatten die Vertreter der Provinzen kurzerhand entschieden, das Amt nicht neu zu besetzen.
Nach der französischen Invasion und darauf folgenden Unruhen gelangte das Haus der Oranier wieder in eine machtvolle Position. In den 1780er-Jahren wuchs den Oraniern jedoch ein Gegenspieler: Überall im Land gründeten sich "Patriotische Gesellschaften" und griffen die Oranier an.
Mit Erfolg: Kurzzeitig übernahmen die Gesellschaften Ende 18. Jahrhunderts die Macht und benannten die niederländische Republik 1795 in Batavische Republik um. Die Wirtschaft des Landes stagnierte im 18. Jahrhundert, was daran lag, dass die Republik in fast allen Sektoren verstärkt ausländische Konkurrenz bekam, die sie preislich unterbot.
Die späte Monarchie
Die Herrschaft der Patrioten währte allerdings nicht lange: 1806 besetzte Napoleon Bonaparte die Batavische Republik. Sein Bruder Louis machte aus ihr 1806 das Königreich Holland; 1810 wurde es zu einem französischen Department.
Die Franzosen sorgten für zentralistische Verwaltungsstrukturen, die in der Republik bewusst vermieden worden waren. Wirtschaftlich ging es den Niederlanden weiterhin nicht gut, weil sie in den Napoleonischen Krieg mit England hineingezogen wurden und dies den weltweiten Handel und die Schifffahrt belastete.
1813 kam es zum erfolgreichen Aufstand gegen die französischen Besatzer, und es wurde eine provisorische neue Regierung gebildet. Diese sollte eine Verfassung ausarbeiten. Doch dann überschlugen sich außenpolitisch die Ereignisse.
Das Ergebnis: Die südlichen Niederlande – das heutige Belgien – wurden besetzt und mit den nördlichen Niederlanden vereint. Im März 1815 nahm der Oranier Wilhelm den Titel "König der Niederlande" an.
Doch der Frieden in der neuen Monarchie währte nicht lange: Da sich der südliche französischsprachige Teil in den folgenden Jahren stark benachteiligt fühlte, kam es 1830 in Brüssel zum Aufstand gegen den Oranier-König. So entstand Belgien als unabhängiger Staat, und die Niederländer zogen sich endgültig auf ihr ursprüngliches Gebiet im Norden zurück.
Reformen und Säulenbildung
Unter König Wilhelm II. erhielten die Niederlande im europäischen Revolutionsjahr 1848 die Staatsform einer parlamentarischen Monarchie – und eine Verfassung. Das allgemeine Wahlrecht wurde 1917 für Männer und 1919 für Frauen eingeführt.
Gesellschaftlich gesehen bildeten sich Ende des 19. Jahrhunderts verschiedene Säulen heraus, die für politische Stabilität im Land sorgten: protestantische, katholische, sozialistische und liberale.
Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern vollzog sich der Übergang von der Handelsnation zur Industrienation erst spät – Ende des 19. Jahrhunderts. Dies lag daran, dass die Industrialisierung wegen der hohen Produktionskosten in den Niederlanden erst spät begann.
Im Ersten Weltkrieg verhielten sich die Niederlande neutral und waren deshalb nicht an den Kämpfen beteiligt. So konnte man in Ruhe die konstitutionelle Monarchie als parlamentarische Demokratie ausbauen.
Die Schrecken des Zweiten Weltkriegs
Am 10. Mai 1940 fielen die deutschen Nationalsozialisten im Rahmen von Hitlers Blitzkrieg-Strategie ins Land ein. Nach nur fünf Tagen war der Angriff beendet. Königin Wilhelmina und das niederländische Kabinett hatten am zweiten Kriegstag das Land verlassen und bauten in London eine Exilregierung auf. Auf Hitlers Befehl wurde am 17. Mai 1940 eine Zivilverwaltung mit einem Reichskommissar an der Spitze eingesetzt, die die Niederlande gleichschalten sollte.
Die schrecklichen Folgen der nationalsozialistischen Besatzung: 15.000 Niederländer starben im Hungerwinter 1944/45, 8000 niederländische Zwangsarbeiter kamen in Deutschland ums Leben, und von den rund 140.000 in den Niederlanden lebenden Juden wurden 120.000 in Konzentrationslager deportiert. Nur 6000 kehrten nach Kriegsende zurück.
Treibende Kraft der europäischen Integration
Nach der Kapitulation der Nationalsozialisten kehrten die Königin und die Exilregierung im Juni 1945 zurück. Weil das Prinzip der Neutralität im Zweiten Weltkrieg nicht funktioniert hatte, betrieben die Niederlande nun eine aktive Bündnispolitik. Sie initiierten die Benelux-Wirtschaftsunion, waren Gründungsmitglied der NATO (North Atlantic Treaty Organization) sowie der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die heute ein Teil der Europäischen Union ist.
In den 1960ern setzten sie sich für die Integration Europas ein. Am Ende dieses Jahrzehnts gab es eine kurze Protestbewegung, die die Unzufriedenheit mit dem niederländischen Establishment ausdrückte, aber mit den heftigen politischen Protesten – beispielsweise in Deutschland – nicht vergleichbar war.
In den 1970er-Jahren wurde der Umbau zum Wohlfahrtsstaat vorangetrieben. Eine wirtschaftliche Krise in den 1980ern sorgte für eine Rekord-Arbeitslosigkeit von zwölf Prozent, 2018 lag sie nur noch bei etwa vier Prozent.
Heftige gesellschaftliche Debatten
Die niederländische Öffentlichkeit wurde im Jahr 2002 durch den Mord am rechtspopulistischen Politiker Pim Fortuyn rund eine Woche vor der Parlamentswahl erschüttert. Dessen Wahlliste erreichte 17 Prozent der Stimmen und war kurzzeitig an der Regierungskoalition von Jan Peter Balkenende mit den Christdemokraten und den Rechtsliberalen beteiligt. Im Oktober 2002 zerbrach die Koalition allerdings bereits.
2004 gab es einen weiteren, die Öffentlichkeit erschütternden Mord: Der islamkritische Filmregisseur Theo van Gogh wurde in Amsterdam umgebracht. Dies löste heftige Debatten über die multikulturelle Gesellschaft aus. Es kam zu Brandanschlägen auf islamische und christliche Einrichtungen – und zum Ende der jahrzehntelangen Politik des Konsenses.
Bei der Parlamentswahl 2017 siegte die rechtsliberale Regierungspartei des amtierenden Ministerpräsidenten Mark Rutte deutlich und verhinderte so den Erfolg des EU-feindlichen Rechtspopulisten Geert Wilders.
(Erstveröffentlichung: 2008. Letzte Aktualisierung: 18.06.2019)