Familienleben in Hannover
Herschels Eltern Ryfka und Sendel Grynszpan lebten als orthodoxe Juden im zaristischen Russland. Vater Sendel war als Schneider tätig. Schon als Kind bekam er in seiner Heimat Ausschreitungen gegen Juden zu spüren, was er seinen eigenen Kindern später einmal ersparen wollte.
Die Eltern flohen nach Westen und ließen sich 1911 in Hannover nieder. Das erste Kind war bei der Geburt gestorben. 1916 kam Tochter Berta zur Welt, 1919 Sohn Markus, 1921 Herschel. Ein weiterer Sohn starb mit 14 Jahren an Scharlach, einer kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben.
Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges nahmen die Grynszpans die polnische Staatsangehörigkeit an, nachdem durch den Versailler Vertrag die Unabhängigkeit Polens wiederhergestellt war. In Deutschland lebte die Familie in Armut, während der Weltwirtschaftskrise musste Sendel Grynszpan die eigene Schneiderei aufgeben.
1934 konnte er seine Arbeit wieder aufnehmen – die Arbeitsnot war vorüber. Doch nun gehörten Demütigungen und Schikanen von Juden zum Alltag. Die Nationalsozialisten waren bereits seit einem Jahr an der Macht.
Zeit in Paris
Herschel Grynszpan besuchte die Volksschule in Hannover, die er 1935 vorzeitig und ohne Abschluss verlassen musste. Der scheue Junge, einen Kopf kleiner als seine Klassenkameraden, soll zwar überdurchschnittlich intelligent gewesen sein, dafür habe es ihm an Fleiß und Disziplin gemangelt. Außerdem soll er streitsüchtig gewesen sein.
Bis 1936 ging Herschel dann auf die Rabbinische Lehranstalt in Frankfurt. Hier wird sich sein Wunsch verfestigt haben, nach Palästina auszuwandern – denn zu Hause fand Herschel keine Lehrstelle, die Judendiskriminierung wurde zusehends schlimmer.
Ab Juli 1936 kam er zunächst bei Verwandten in Brüssel unter, wo er auf seine Einreisegenehmigung nach Palästina warten wollte. Herschel beantragte einen sogenannten Sichtvermerk zur Wiedereinreise nach Deutschland, nur so erhielt er ein Visum für Belgien. Er blieb allerdings nur kurz, da er eigentlich zu seinem Onkel nach Paris wollte, die Genehmigung für Frankreich aber nicht direkt erhalten hatte.
Vermutlich reiste Herschel schon im August 1936 nach Paris. Konkrete Angaben gibt es hierüber nicht, da er keine gültigen Papiere hatte. Herschel wohnte bei seinem Onkel Abraham und seiner Tante Chawa. Gelegentlich half er dem Onkel, der ebenfalls eine Schneiderei hatte, im Geschäft, ging ansonsten aber keiner geregelten Beschäftigung nach.
Schließlich lief seine Wiedereinreisegenehmigung für Deutschland am 1. April 1937 ab, eine Verlängerung wurde abgelehnt. Herschel konnte nun nicht mehr zu seiner Familie zurück. Am 8. Juli 1938 lehnte das französische Innenministerium eine ständige Aufenthaltsgenehmigung für Frankreich ab, da er über keine regelmäßigen Einkünfte verfügte.
Eine Woche später musste Herschel das Land verlassen. Aber wohin? Auch sein polnischer Pass war inzwischen abgelaufen, das Visum für Palästina ließ auf sich warten. Herschel entschied sich, illegal in Paris zu bleiben.
Das Attentat
Dann kam die Postkarte, die alles veränderte. Am 3. November 1938 erhielt Herschel eine Nachricht von der Familie, datiert auf den 31. Oktober. Seine Schwester Berta berichtete ihm von ihrem Leid: Mit Tausenden polnischen Juden wurde die Familie zur polnischen Grenze gebracht und abgeschoben, vertrieben ins Niemandsland.
Auch Polen verweigerte vielen die Aufnahme, so dass sie zunächst nur in Lagerbaracken unterkamen. Die Situation muss katastrophal gewesen sein, wie aus der Postkarte von Berta und einer späteren von Vater Sendel hervorging.
Herschels eigene verfahrene Lage als Illegaler in Paris geriet auf einmal in den Hintergrund. Was mag ihm durch den Kopf gegangen sein? Fest steht, dass er am 7. November früh morgens in ein Waffengeschäft ging und eine Pistole kaufte, vermutlich von dem Taschengeld, das ihm sein Onkel Abraham regelmäßig zukommen ließ.
Um etwa 9.30 Uhr kam Herschel an der Deutschen Botschaft an, wo er an der Pforte angab, "ein wichtiges Dokument an einen Sekretär übergeben zu müssen". Er wurde zum Legationssekretär Ernst vom Rath durchgelassen, der ihn in sein Zimmer bat. Wenige Minuten später schoss Herschel mehrmals auf ihn. Hilferufe ertönten, das Zimmer wurde gestürmt, Herschel Grynszpan festgenommen und abgeführt.
Die Hintergründe
In den ersten Verhören gab der 17-Jährige an, dass er "aus Protest gegen die antijüdische Politik der Deutschen und aus Rache für das Schicksal seiner Familie" gehandelt hatte. Ernst vom Rath kam sofort ins Krankenhaus und wurde operiert, zwei Tage später, am 9. November, starb der 29-Jährige jedoch an seinen schweren Verletzungen.
Bis heute bleiben einige Fragen ungeklärt. Wie kam Herschel Grynszpan einfach so mit einer Waffe in die Botschaft? Wollte er eigentlich zum Botschafter, hatte er ein Attentat auf ihn geplant? Oder kannte er den Legationssekretär Ernst vom Rath, was dadurch zu vermuten wäre, dass dieser ihn einfach so in sein Zimmer eintreten ließ?
Eine umstrittene Theorie besagt, dass Herschel Grynszpan und Ernst vom Rath eine homosexuelle Beziehung hatten und sich in einem entsprechenden Lokal in Paris kennengelernt hatten. Der Diplomat soll Herschel versprochen haben, ihm für seine sexuellen Dienste Papiere für eine Wiedereinreise nach Deutschland zu besorgen. Womöglich erhoffte sich Herschel auch Hilfe für seine Familie. Ernst vom Rath hielt seine Versprechen aber nicht ein, daher soll Herschel ihn erst erpresst und dann auf ihn geschossen haben.
Die Nationalsozialisten spielten den Fall sofort politisch hoch: Alle Zeitungen mussten auf der Titelseite berichten. Hitler beförderte den Legationssekretär, als dieser bereits im Koma lag und feststand, dass er sterben würde, gleich um mehrere Stufen zum Gesandtschaftsrat erster Klasse. Die Nationalsozialisten inszenierten so den Vorwand für die nun folgenden Pogrome, die angebliche Rache des deutschen Volkes an den Juden.
Gefängnis-Odyssee
Für Herschel Grynszpan begann eine Odyssee durch verschiedene Gefängnisse. Zunächst war er in Fresnes inhaftiert. Als die deutsche Wehrmacht vorrückte, wurden die Insassen Anfang Juni 1940 nach Süden gebracht, erst nach Orléans und von dort nach Bourges.
Unterwegs wurden sie von der deutschen Luftwaffe angegriffen. Herschel flüchtete nicht wie viele andere, sondern wollte nach Bourges überführt werden – zu groß war die Angst, von den Deutschen gepackt zu werden. Am 14. Juni marschierten die deutschen Truppen in Paris ein.
Im Gefängnis in Bourges konnte Herschel nicht lange bleiben. Man wusste, dass die Nationalsozialisten Jagd auf ihn gemacht hatten. Er wurde nach Süden geschickt und kam schließlich frei und allein in Toulouse an. Ohne Geld, ohne Bleibe suchte er wiederum schnell den Weg ins Gefängnis. Hier wurde er aufgenommen.
Im Juli 1940 lieferte das Vichy-Regime unter Henri Philippe Pétain, das mit Deutschland zusammenarbeitete, Herschel Grynszpan schließlich den Nationalsozialisten aus. Herschel kam ins Gefängnis der Geheimen Staatspolizei nach Berlin-Moabit, wo er verhört wurde, und anschließend ins Konzentrationslager Sachsenhausen.
Er wurde milde und privilegiert behandelt, denn Joseph Goebbels wollte unter seiner Mitwirkung einen großen Schauprozess gegen das Weltjudentum vorführen. Dieser fand jedoch nie statt. Herschel behauptete in den Verhören nämlich eine homosexuelle Beziehung zu Ernst vom Rath. Goebbels fürchtete um das Ansehen des Diplomaten und des Deutschen Reiches.
Adolf Hitler veranlasste letztendlich den Abbruch der Vorbereitungen für den Prozess, der eigentlich für den Mai 1942 geplant war. Er sollte, wenn überhaupt, nach Kriegsende stattfinden.
Nach 1945
Im Konzentrationslager Sachsenhausen verliert sich Herschels Spur. Es ist nicht sicher, ob er dort hingerichtet oder doch befreit wurde. Gegen eine Hinrichtung würde sprechen, dass Hitler den Prozess gegen Herschel ja nach Kriegsende stattfinden lassen wollte. Aus dieser Sicht wäre es möglich, dass er den Zweiten Weltkrieg überlebte, zurück nach Paris ging und dort einen anderen Namen annahm.
Allerdings wäre seine Tat längst verjährt gewesen, er hatte nichts mehr zu befürchten. Daher bleibt es fraglich, warum er dann nicht versuchte, seine Verwandten zu finden. Die Eltern und Geschwister waren nach Russland geflüchtet und hatten den Holocaust überlebt. Nach 1945 versuchten sie verzweifelt, etwas über das Schicksal ihres Sohnes zu erfahren. 1960 wurde Herschel Grynszpan offiziell für tot erklärt.
(Erstveröffentlichung 2008. Letzte Aktualisierung 26.11.2019)