Der Bärentöter Lāčplēsis
Der 11. November ist ein wichtiger Tag in Lettland. Es ist der Tag des Bärentöters Lāčplēsis. Lāčplēsis lebte dem Nationalepos zufolge vor langer Zeit in Lettland und besaß Bärenkräfte. Die kamen nicht von ungefähr – er war der Sohn eines Menschen und einer Bärin und darüber hinaus von den Göttern als Nationalheld Lettlands auserkoren.
Seinen Namen erhielt er durch seine erste Heldentat: Er tötete einen gefährlichen Bären, indem er ihm mit bloßen Händen den Unterkiefer aus dem Gesicht riss. Lāčplēsis erlebte viele solcher Abenteuer: Er kämpfte gegen Ungeheuer und deutsche Missionare, erlöste ein versunkenes Schloss von einem Fluch und eine Hexe von ihrem Pakt mit dem Teufel.
Eines Tages fiel er jedoch einer Hinterlist zum Opfer. Bei einem Turnier willigte er in einen Kampf mit dem Schwarzen Ritter ein. Der hatte von seiner einzigen verwundbaren Stelle erfahren – den Bärenohren – und nutzte das Duell, um ihm eines abzuschneiden. Kämpfend stürzten die beiden in den Fluss Daugava und wurden nie wieder gesehen.
Mit dem Tod ihres Nationalhelden endete auch die Freiheit der Letten. Die Kreuzritter des Deutschen Ordens breiteten sich aus und es folgten 700 Jahre Fremdherrschaft.
Ein Heldenepos für das fremdbestimmte Volk
So schön schaurig diese Geschichte ist und so sehr sie an die griechische Mythologie und die Nibelungensage erinnert – genauso alt ist sie nicht. Erst 1888 erschien das Werk von Andrejs Pumpurs, einem lettischen Nationalliteraten.
Sein Ziel war es, dem so lange Zeit fremdbestimmten Volk eine Art Gründungsmythos zu geben. "Volksepos" lautet deshalb auch der Untertitel.
Von alten Überlieferungen ließ sich Pumpurs inspirieren, doch die Handlung der Geschichte reimte er sich größtenteils selbst zusammen. Hintergrund war die während der Romantik verbreitete Ansicht, dass der Beweis für die Existenz eines Volkes eine heldenhafte Vergangenheit sei.
Die Letten hatten in ihrer Geschichte selten Gelegenheit, sich als eine Gemeinschaft zu fühlen. Nach der Schlacht bei Šiauliai von 1237 wurde mit Livland ein großer Teil des heutigen lettischen Gebiets dem Deutschen Ordensstaat angegliedert. Andere Landesteile blieben in der Hand des Bischofs der Stadt Riga. Nach dem Livländischen Krieg (1558-1583) wurden die Regionen unter Schweden, Dänemark und Polen-Litauen aufgeteilt.
Der Große Nordische Krieg (1700-1721) veränderte die Herrschaftsverhältnisse noch einmal: Ab dieser Zeit gehörten Livland und Estland zu Russland. Mit der dritten Teilung Polens 1795 galt das auch für die beiden historischen Regionen Kurland und Lettgallen.
Erst während dieser Zeit erwachte das Nationalgefühl der von Russland dominierten Letten.
Kurzzeitige Unabhängigkeit
Nach dem Ende der deutschen Besatzung während des Ersten Weltkrieges erklärte sich Lettland am 18. November 1918 erstmals für unabhängig. Doch schon zu Beginn des Zweiten Weltkrieges geriet der junge Staat unter Druck: Die Sowjetunion zwang dem Land ein Bestandsabkommen auf, und Deutschland nötigte es zu einem Umsiedlungsvertrag.
Rund 50.000 Deutschbalten wurden innerhalb weniger Wochen nach Deutschland umgesiedelt. Die verbliebenen wurden nach der Besetzung des Landes durch sowjetische Truppen ausgewiesen, während zehntausende Letten nach Sibirien deportiert wurden.
Zwischen 1941 und 1945 war Lettland von der Deutschen Wehrmacht besetzt. Während dieser Zeit kämpften einige Letten freiwillig an deren Seite gegen die Rote Armee und beteiligten sich auch am Holocaust: Mithilfe der lettischen Hilfspolizei sowie einem Jagdkommando wurde die jüdische Bevölkerung Lettlands fast vollständig ermordet.
Deportation und Flucht in den Westen
Nach der Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945 setzte die Rote Armee ihrerseits den Terror in Lettland fort. Bis 1953 wurden rund 170.000 Menschen inhaftiert, deportiert oder getötet.
Einige übten noch als sogenannte Waldbrüder Widerstand, rund 100.000 flohen aber nach Deutschland, Schweden, in die USA oder nach Australien. Im Gegenzug schuf Moskau Anreize, um Bürger aus anderen Regionen der Sowjetunion in Lettland anzusiedeln.
Lettlands Umgang mit der russischsprachigen Minderheit
So kam es, dass bei der erneuten Unabhängigkeitserklärung des Landes am 4. Mai 1990 nur noch 52 Prozent der Menschen in Lettland Letten waren. 34 Prozent gehörten der russischen Bevölkerung an, 4,5 Prozent waren Weißrussen, 3,5 Prozent Ukrainer. In den drei bevölkerungsreichsten Städten des Landes befanden sich die Letten in der Minderheit.
Problematisch ist aus Regierungssicht insbesondere die Tatsache, dass viele der in Lettland lebenden Russen kein Wort Lettisch sprechen. Sie lesen russische Bücher und Zeitungen, hören russische Musik und schauen russisches Fernsehen. Ein Umstand, den die Letten wieder umkehren wollen: Alle Schulkinder müssen neben ihrer Muttersprache auch Lettisch lernen.
Die Nicht-Bürger Lettlands
Ein recht strenges Gesetz gilt außerdem seit 1996: Wer lettischer Staatsbürger werden möchte, muss sich neben der lettischen Sprache auch gut mit der Geschichte, den Traditionen und der Verfassung des Landes auskennen und die Nationalhymne auswendig können.
Darüber hinaus müssen Anwärter seit fünf Jahren in Lettland gemeldet sein und eine legale Einkommensquelle nachweisen können. Wer sich dagegen entscheidet, ist ein sogenannter Nicht-Bürger.
Ende 2019 wurden etwa 217.000 Menschen zu dieser Gruppe gezählt – das sind etwa 10 Prozent der Einwohner Lettlands. Sie besitzen kein Wahlrecht und können beispielsweise nicht als Beamte, Polizisten oder Notare arbeiten.
Das lettische Menschenrechtskomitee zählte 2008 insgesamt 75 rechtliche Unterschiede zwischen Bürgern und Nicht-Bürgern. Auch beim Reisen gibt es Unterschiede: Wer als lettischer Staatsbürger nach Westeuropa fahren möchte, braucht kein Visum – Nicht-Bürger jedoch schon.
Touristen sind immer willkommen
Wer in die andere Richtung reist, spürt von diesen Unterschieden freilich kaum etwas. Neben der Hauptstadt Riga sind auch die ländlichen Gebiete des Landes für naturverbundene Touristen interessant.
Einige Landstriche wirken noch völlig unberührt und im Vergleich zu anderen ehemaligen Sowjetrepubliken hält sich die Umweltbelastung in Grenzen.
Das Gebiet um die Kleinstadt Madona im Osten des Landes ist sogar für seine reine Luft berühmt. Hier befindet sich auch die höchste Erhebung Lettlands: Mit 312 Metern Höhe ist das der Gaiziņkalns im Vidzemer Hochland. Von der überwiegend flachen Landschaft profitiert auch, wer Lettland mit dem Fahrrad erkunden möchte. Wer dabei in den Sommermonaten die Augen offen hält, hat gute Chancen, unterwegs Schreiadler oder Störche zu sehen.
Höhepunkt des Jahres – das Jani-Fest
Besonders bei Touristen beliebt ist auch die Gegend um Jūrmala, 40 Kilometer westlich von Riga. Hier wie überall im Land feiern die Letten mit Fackeln und in den traditionellen Trachten jedes Jahr in der Nacht zum 24. Juni das Jani-Fest – die baltische Version der Mittsommernacht. In Lettland ist diese Feier wichtiger als Weihnachten.
Wer die Möglichkeit hat, dem Höhepunkt des Jahres beizuwohnen, sollte sich diese auf keinen Fall entgehen lassen. Hier beginnt man auch zu verstehen, warum den Letten ihre Tradition und Identität so wichtig sind.
(Erstveröffentlichung 2009. Letzte Aktualisierung 27.05.2020)